Nicaragua 1998 - ein Reisebericht

Die Revolution von 1979, die Alphabetisierungskampagne und die Landumverteilung, der US-Terror - viele Erinnerungen und Geschichten werden bei dem Wort Nicaragua wach. Doch die Sandinisten, die die sozialen Errungenschaften und die damit verbundenen Hoffnungen auf ein menschenwürdiges Leben vorantrieben, müssen sich seit acht Jahren mit ihrer Rolle als Oppositionspartei begnügen. Um den jetzigen Präsidenten Alemán geschart, wittern die ehemaligen größeren und kleineren Lichter der Somoza-Diktatur seit geraumer Zeit Morgenluft. Während das Rad der Geschichte so langsam aber stetig in die vorrevolutionäre Zeit zurückgedreht wird, bestimmen die Korruption und der Ausverkauf des Landes das Tagesgeschehen. Den bürgerlichen Medien des Westens ist die Situation Nicaraguas jedoch egal, nur die Sensationswellen um den angeblichen sexuellen Mißbrauch Daniel Ortegas an seiner Adoptivtochter finden den Weg in die Gazetten. Wie es heute in Nicaragua zugeht, das wollten wir vor Ort selbst erfahren. Die nachfolgenden losen Beobachtungen sind der Spiegel einer vierwöchigen Reise, die wir im Juni/Juli unternahmen.

Nach vierzehnstündiger Anreise stehen wir vor dem Flughafen Managuas, vor uns breiten sich in der Nachmittagshitze die Ausläufer der Hauptstadt aus. Auf der Taxifahrt zum Hotel versuchen wir die ersten Eindrücke mit unseren Erfahrungen aus Cuba zu vergleichen. Es bietet sich an, sieht man doch in beiden Ländern diese Mischung aus kaputten Autos, fliegenden Händlern und einer gesunden Portion Todesverachtung das Straßenbild bestimmen. Doch der Vergleich hängt schief. Im Schatten überdimensionierter Werbetafeln sitzen unübersehbar die Verlierer des Neoliberalismus. Umgeben von den Wohlstandsabgasen der Reichen versuchen Männer und Frauen, teilweise mit ihren kleinen Kindern auf dem Arm, Geld zu erbetteln oder irgendetwas zu verkaufen. Nein, Cuba scheint auf einem anderen Stern zu liegen.

Unsere Unterkunft befindet sich leicht südlich der Stadtmitte, gegenüber der größten Hochschule des Landes, der Zentralamerikanischen Universität (UCA). Es ist ein ruhiges und - wie es heißt - sicheres Viertel, in dem sich hauptsächlich die gehobenen Einkommensklassen tummeln. Auch die Studierenden gehören dazu, wie sich an ihrer Kleidung unschwer erkennen läßt.

An der Uni sieht alles so frisch und sauber aus, wie neu bepinselt. Wir erfahren, daß es im Frühjahr landesweite Studentenunruhen gegeben hat, die von der Forderung getragen wurden, sechs Prozent des Staatshaushaltes für die Hochschulen aufzuwenden. Dabei setzte man in Managua auch die Bestandteile von Pflastersteinstraßen gegen die anrückende Polizei ein. Die Behörden reagierten prompt und ließen alle Wurfgeschoßreservoirs rings um die UCA durch Teerstraßen ersetzen. Von den sechs Prozent redete man natürlich nicht. Am Erscheinungsbild der UCA erinnert heute leider nichts mehr an die Rebellion.

Wir begeben uns in den Norden der Stadt, zum Platz der Revolution. Vergeblich suchen wir auf der Fahrt dorthin die in der Literatur so oft beschriebenen Wandgemälde, die die Befreiung von der Somoza-Diktatur zum Inhalt haben. Präsident Alemán, der sich schon in seiner Zeit als Bürgermeister von Managua einen Namen durch seinen steten Antisandinismus machte, leistete bei der Zerstörung der Wandbilder ganze Arbeit. Wenn man Geschichte töten will, muß man zuerst die Erinnerung an sie auslöschen. Das weiß wohl auch der Mann in dem schäbigen Zelt, der das Grabmal des 1976 ermordeten FSLN-Mitbegründers Carlos Fonseca am Revolutionsplatz bewacht.

Anderntags klappern wir die großen Märkte der Stadt ab, die zeitgleich als Busbahnhöfe dienen. Es gibt hier wirklich alles, vorausgesetzt man hat das nötige Kleingeld. Nahrungsmittel paaren sich mit Schnürsenkeln und Transistorradios, fröhliches Handeln erfüllt die halbüberdachten Hallen. Alles schiebt und drückt zwischen den Ständen hin und her; Umkehr ist nur selten möglich und die Aussicht auf eine neue Tube Zahnpasta verwandelt sich so in ein Sonderangebot für rosa Brautkleider. Laut Reiseführer muß man als Tourist im Falle eines Diebstahls auch nicht traurig sein, da die geraubte Ware bestimmt an einem der Stände wiedererwerbbar ist.

Andauernd sind uns die Straßenkinder auf den Versen. Schuhe putzen, Bonbons verkaufen, Essensreste abstauben oder einfach Geld erbetteln - darin besteht ihre Lebensaufgabe. "Geht ihr zur Schule?" Die Frage wird oft mit einem "Nein" beantwortet. Wie sollten sie auch. Der Schulbesuch ist teuer und die Eltern sind in Zeiten ständig geringer werdender Sozialleistungen auf den Verdienst der Jüngsten dringend angewiesen.

Die Behausungen dieser Familien findet man in Managua überall. Die städteplanerischen Fähigkeiten Alemáns und seiner Anhänger lassen neue Hochhauskomplexe in direkter Nachbarschaft von Wellblechhütten entstehen, wobei letztere kaum die Aussicht auf Beständigkeit haben. An den Rändern der Stadt wird es da schon homogener. Einfachste Hütten en masse, die noch nie Elektrizität oder fließendes Wasser gesehen haben. Um der Gerechtigkeit Willen müßte man uns dort eigentlich sofort ausrauben, aber nichts passiert. Wir trinken die an wirklich jedem Ort des Landes erhältliche Amibrause und sehen uns um. Dabei fällt uns auf, daß selbst die Elendsten ein äußerst ausgeprägtes Sicherheitsbedürfnis haben. Sobald materielle Werte in Form von Transistorradios oder batteriebetriebenen Fernsehgeräten Einzug in die Hütten halten, werden diese oft mit Stacheldraht umzäunt oder von einbetonierten Glasscherben umgeben.

León und Granada

Nach einer Woche in der Hauptstadt fahren wir knapp hundert Kilometer in den Nordwesten, nach León. Keine Millionenstadt, kein ständiger Smog - León ist sehr entspannt. Auch haben hier noch die Sandinisten das Sagen. Wandgemälde, die die vergangenen Kämpfe darstellen, gibt es hier zuhauf, genauso wie die einstigen Revolutionäre. So lernen wir Sergio kennen, der bei der Befreiung der Stadt 1979 in vorderster Front stand. Seine Wohnung hat er in ein Museum verwandelt, alle Exponate erzählen die Geschichte der Revolution. Fotos gibt es, Zeitungsausschnitte, das Glied einer abgesprengten Panzerkette und viel leicht angerostete Munition. Das Ganze wird von ein paar Heiligenbildern umrahmt - Revolution und Religion sind in Nicaragua kein Widerspruch.

Wir wollen wissen, wie es denn heute um die Linke steht. Gerade in Zeiten der fortschreitenden Verelendung müßte doch eigentlich wieder flächendeckend einiges am Gären sein. Sergio entgegnet, daß die sandinistische Führung sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt sei, zudem habe man sich ja 1995 erst einmal gespalten. Das Volk besitze, so Sergio, größtenteils keine Hoffnung auf einen grundlegenden Wandel.

Zurück in der Unterkunft unterhalten wir uns mit einer der Hausangestellten, einer Frau von neunzehn Jahren. Sie kann als privilegiert angesehen werden, da sie ein Jahr die Schule besuchen durfte und nun ihre Lesefähigkeit täglich an der Bibel trainiert. Ihre ältere Kollegin fragt uns vergeblich, ob wir auch katholisch seien.

Religion und die dazugehörenden Symbole sind im täglichen Leben Nicaraguas allgegenwärtig. Sei es der Busfahrer, der via Aufkleber Jesus als seinen Piloten anpreist, oder der gestandene Revolutionär, der sich zum Katholizismus bekennt. Auch stolpert man an jeder Ecke über eine Kirche oder Kapelle. Jedoch haben die Gottesdienste in den ärmeren Kirchen recht wenig mit den hierzulande üblichen Veranstaltungen zu tun. Wenn man den Menschen zusieht, wie sie in der Kirche singen, lachen, musizieren, während ihre Kinder durch die Gegend wuseln, dann scheint in Nicaragua mehr der liebende, als der strafende Heiland zu wohnen.

Aber auch León ist keine Oase. Die Unterschiede zwischen denen, die sich nach 1990 eine goldene Nase verdient haben und dem Rest der Bevölkerung treten auch hier offen zu Tage. Auffällig dabei ist die ständige Präsenz von privaten Sicherheitskräften. Jede noch so kleine Cola-Lagerhalle leistet sich mit Schrotflinten bewaffnete Wächter und in der Bank kann es passieren, daß einem zur Begrüßung die Maschinenpistole unter die Nase gehalten wird; heftiges Wedeln mit Dollars schafft jedoch schnell gutes Wetter, man gehört dazu. Wohlstand muß gegen die Armen verteidigt werden - die Zeitung spricht davon, daß in Managua Gefechte zwischen Jugendbanden und der Polizei ausgebrochen sind.

Wir reisen zurück in den Süden, nach Granada. Die Stadt ist bekannt für ihre konservative Tradition, die Sandinisten haben hier keine breite Basis. Granada lag im vorigen Jahrhundert ständig mit dem liberaleren León im Streit, als die Frage nach der Hauptstadt noch nicht entschieden war und die Kompromißlösung Managua noch in der Ferne lag. Traurige Berühmtheit erlangte Granada 1856, als der US-amerikanische Söldnerführer und Freizeitimperialist William Walker die Stadt in Schutt und Asche legen ließ. Davon ist heut rein gar nichts mehr zu spüren. Farbenfrohe Häuser im spanischen Kolonialstil prägen den Stadtkern, der gerne von der reichen Elite frequentiert wird. Viele US-Amerikaner sieht man hier; es heißt, die Stadt habe das größte touristische Potential Nicaraguas.

Wir treffen Berthold, einen Westdeutschen, der nach seiner Tätigkeit im Entwicklungsdienst hier hängenblieb und mit seiner Freundin einen kleinen Kunstladen betreibt. Die Sandinisten sieht er landesweit auf dem absteigenden Ast. Die FSLN habe sich von einer Volksbewegung in eine erstarrte Partei verwandelt, Basisarbeit finde kaum noch statt. Zudem schade der Mißbrauchsskandal um Ortegas Adoptivtochter dem Ansehen der Sandinisten ungemein; man müsse Behauptungen nur oft genug wiederholen, etwas bliebe im öffentlichen Bewußtsein schon hängen. Auch Alemán sei schwer unter Beschuß geraten als bekannt wurde, daß Mitarbeiter von ihm in den Drogenhandel verwickelt sind. Der sitze seine Probleme jedoch aus. Das Volk wende sich indes immer mehr von der Politik ab, die Zeit der großen Hoffnungen sei vorbei.

Die großen Hoffnungen der Reichen auf noch größeren Reichtum brechen sich aber ungehindert ihre Bahn. Eine Snobfeier des örtlichen Lions-Clubs erschallt über den ganzen Stadtkern, während die Straßenkinder uns darum bitten, die eben erstandene Pizza mit ihnen zu teilen. Es ist Alltag in Granada.

Nichtsdestotrotz wollen auch wir die ganzen regionalen Attraktionen sehen, allen voran den um die Ecke gelegenen Doppelvulkan Masayas. Aktiv ist dieser noch, die letzte Eruption liegt aber schon dreizehn Jahre zurück. Um die Götter zu besänftigen, warfen die Indios in ferner Zeit Kinder und Jungfrauen in den rotbrodelnden Rachen und Somoza fand hier eine gute Gelegenheit, um sich der Leichen seiner Gegner zu entledigen.

Nach soviel Kultur haben wir uns eine Ruhepause verdient und fahren auf die nahe Insel Ometepe, im Nicaragua-See gelegen. Die nächsten Tage verbringen wir mit ausgedehnten Spaziergängen oder an Bilderbuchstränden. Die vom Reiseführer versprochenen Süßwasserhaie lassen sich trotz guten Zuredens leider nicht sehen.

Ometepe verfügt erst seit wenigen Jahren über eine die ganze Insel umspannende Hauptstraße. Heftige Regenfälle lassen häufiger Teile der Verkehrswege verschwinden. Ein besonderes Erlebnis ist dann die schliddernde Busfahrt hangabwärts mit einem den Pfad erratenden Fahrer. Selbst geübte Atheisten können an dieser Stelle sehr schnell den Weg zu Gott finden.

Ins Gebirge

In der letzten Woche unseres Aufenthalts entschließen wir uns, hoch in die nördliche Gebirgsregion zu fahren, in die Nähe der hondurianischen Grenze. Dieses Gebiet litt in den achtziger Jahren besonders, da es das vorrangige Ziel der aus dem Nachbarland einfallenden Contra-Banden war.

Estelí, einer der am heißesten umkämpften Orte im Widerstand gegen Somoza, ist unser erster Halt. Nicht mehr viel erinnert dort an die Revolution oder den Contra-Terror, einzig die verblassenden Wandbilder und die Galerie der Helden und Märtyrer, in der Photos und persönliche Gegenstände der Ermordeten zu sehen sind, holen die Vergangenheit zurück.

Anders ist es da schon in dem dreißig Kilometer entfernten Dorf Condega, dessen stolzes Wahrzeichen aus dem Wrack eines abgeschossenen US-amerikanischen Kriegsflugzeuges besteht. Die Häuserwände erzählen die lange Geschichte des lateinamerikanischen Befreiungskampfes, Nicaraguas Volksheld Sandino und Che Guevara reichen sich die Hände. Auf dem äußerst bunt gehaltenen örtlichen Friedhof informieren die Grabinschriften über die lange Reihe der Contra-Opfer.

In Condega fallen auch die beiden öffentlichen Bibliotheken auf, die von der Kinderliteratur bis hin zu politischen Werken viel zu bieten haben. In einem Land, in dem die Analphabetenrate nun wieder über dreißig Prozent beträgt und Bücher generell eine teure Mangelware sind, ist dies eine Besonderheit.

Das Ende unserer Reise liegt in Matagalpa, einer Stadt, deren Umgebung Ende des letzten Jahrhunderts von europäischen Einwanderen zur Kaffeeregion ausgebaut wurde und in der 1978 die Schlußoffensive der Sandinisten begann. Damals wurde buchstäblich um jedes Haus gekämpft, vermutlich aber immer um die Kathedrale herum, die als einziges Gebäude unbeschädigt blieb.

Mit der Wasserversorgung ist es in Matagalpa während der Sommermonate so eine Sache: das Wasser fließt nur, wenn es lustig ist - und das ist nicht so häufig der Fall. Sei`s drum, wir müssen uns auch nicht andauernd waschen. Aber das Haus Carlos Fonsecas, das nun eine Art Museum des Sandinismus sein soll, wollen wir noch sehen. So stehen wir in der gleißenden Hitze trübe vor einem verrammelten Gebäude. Wann es wieder öffnet? "Mañana", so wird uns mehrmals versichert. Schade, morgen müssen wir schon wieder zum Flughafen zurück.

Die Moral von der Geschicht`

Es gibt keine. Klar, wer meint, er würde als linksbewegter Tourist in Nicaragua von fröhlichen Guerilleros freudig in Empfang genommen werden, der erfährt eine herbe Enttäuschung. Nach der Niederlage des Sandinismus kämpft die absolute Mehrheit des Volkes mit dem Markt - sprich: ums Überleben. Die großen gesellschaftspolitischen Entwürfe, die als zwingende Alternative zur etablierten Realität die Leute hinter sich bringen könnten, halten sich zur Zeit gut versteckt.

Dennoch darf man das Land keinesfalls unter der Rubrik "Abgehakt" verbuchen. Im Gegensatz zu den satten Europäern waren die Menschen in Mittel- und Südamerika immer für Überraschungen gut. Auch wenn es in der geschichtlichen Entwicklung nur sehr wenige Konstanten geben mag, so ist doch eines gewiß: wer über Jahrzehnte hinweg getreten wird, und dies trotz kapitalistischer Propaganda nicht als natürlich empfinden will, der wehrt sich eines Tages. Und dann werden Sandino und seine Nachfahren den verblassenden Wandbildern entsteigen und den Geldsäcken ins Gesicht lachen.