"Martyrologium 2000"
Es gab Zwangsarbeiter, die ihre Sklavenarbeit als Anwesenheit der Kirche in
den Lagern und Fabriken verstanden.
Ich erinnere an die jungen Franzosen der Geburtsjahrgänge 1920, 1921 und
1922. Sie wurden auf Druck Hitlers durch ein Gesetz der französischen Regierung
vom 16. Februar 1943 verpflichtet zum S.T.O. (Service du Travail Obligatoire);
d.h. zu einem zweijährigen Zwangsarbeitsdienst in der deutschen
Rüstungsindustrie. Die Nazi-Propaganda versuchte, ihnen einzureden, dass sie für
die deutschen Soldaten die Waffen schmieden müssten, damit diese im Osten für
ein "neues Europa" kämpfen könnten. Man schätzt, dass 650.000 bis 950.000 junge
Franzosen betroffen waren. 60.000 von ihnen starben eines gewaltsamen Todes oder
durch Tbc. Die Überlebenden haben in Frankreich nicht den Status von
"Deportierten", also Verschleppten. Sie wurden ja von der eigenen Regierung
"geschickt"! Sie werden deshalb auch von dem deutschen Wiedergutmachungs-Fonds
keinen Pfennig sehen.
Obwohl keiner von ihnen in kirchlichen Einrichtungen arbeiten musste, war
ihre Arbeit ein kirchlicher Dienst im wahrsten Sinne des Wortes. In keinem
anderen Land Europas hat damals die Kirche sich so intensiv für die
Zwangsarbeiter eingesetzt wie in Frankreich. Sie allein konnte im NS-Deutschland
eine eigene Organisation zur Betreuung der Zwangsarbeiter aufbauen. Unter
Führung des Pariser Kardinals Emmanuel Suhard startete die französische
Kirchenleitung das "Experiment der Katakomben".
26 ausgewählte Priester gingen, als "freiwillige Zivilarbeiter" getarnt, nach
Deutschland und nahmen dort nach einem bis zu 12 Stunden währenden schweren
Arbeitstag noch heimlich stundenlang pastoralen Dienst für ihre Landsleute auf
sich. Dabei konnte der Aktionsradius eines Nürnberger Seelsorgers bis in die
Oberpfalz und weiter reichen. Zu ihnen stießen 273 französische Priester, die
als Kriegsgefangene in deutschen Lagern waren und sich zu Zivilarbeitern
"transformieren" ließen; wobei sie den völkerrechtlich geschützten Status des
Kriegsgefangenen opferten. 1500 französische Seminaristen gingen den gleichen
Weg; 78 neugeweihte Priester folgten.
Die französische CAJ (Christliche Arbeiter Jugend = JOC) engagierte sich auf
ihre Weise. Es wurden drei Möglichkeiten erwogen, wie sie auf das
Zwangsarbeiter-Gesetz reagieren sollte: Verweigern und sich verstecken? In den
noch schwach organisierten Widerstand gehen? Das Gesetz befolgen? Sie wussten,
wer nicht "geht", riskiert, dass der nächste Verwandte in Sippenhaft genommen
und verpflichtet wird. Marcel Callo (von dem noch zu sprechen sein wird) war
sich bewusst, dass statt seiner der ältere Bruder, der kurz vor der
Priesterweihe stand, deportiert würde. Vor allem sagten sie sich: Die CAJ muss
dort sein, wo sie die Arbeiterjugend am nötigsten braucht, also auch in der
Hölle der Zwangsarbeit. Dort ging es um die Identität der jungen Leute als
Menschen, Arbeiter, Franzosen und Christen. Deshalb wurde eine intensive
Bidungsarbeit und Organisationsstruktur entwickelt, um die jungen Franzosen auf
die 2 Jahre in Deutschland vorzubereiten, sie zu begleiten, zu schulen, mit
Material zu versorgen für ihre humanitären, sozialen, kulturellen und religiösen
Aktionen in den Lagern und Fabriken. Sie sollten gewappnet sein für die
Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. "Ihr geht nicht als Verlierer,
sondern als Gewinner", schrieb die Nationalleitung. "Ich gehe als Apostel",
sagte Marcel Callo. Ähnlich dachten Pfadfinder.
Nebenbei sei gesagt, dass
ihre Erfahrungen mit deutschen Seelsorgern und Gemeinden meist positiv waren.
Deutsche Priester halfen ihnen unter eigener Lebensgefahr.
Bald kamen auch die Aktionen in den Gefängnissen dazu. Denn der SD
(Sicherheitsdienst), das Reichssicherheitshauptamt, die Rüstungsindustrie u.a.
erfuhren durch Spitzel, dass die JOC in Deutschland schon im Dezember 1943 in
mehr als 200 Fabriken 50 Sektionen dieser Katholischen Aktion gebildet hatte.
"Das Ziel besteht... in der Spaltung der deutschen Arbeiterschaft. Vor allem
will man aus den Arbeitern Anti-Nazis machen", schrieb der berüchtigte Dr.
Kaltenbrunn in einem Rundschreiben vom 3.Dez. 1943 an die Geheime Staatspolizei.
Darin gab er die Anordnung, französische Geistliche und Priesterseminaristen
unter den Zwangsarbeitern zu überprüfen und gegebenenfalls in Haft zu nehmen.
Französische Zivilarbeiter, die im Sinne der JOC in "Erscheinung getreten sind",
sollten verhört und, wenn erforderlich, in ein KZ "überführt" werden.
Gefängnisse und Konzentrationslager waren die letzte Station des Kreuzweges, den
die Kirche Frankreichs mit den Zwangsarbeitern gehen musste. Das französische
"Martyrologium 2000" zählt 50 französische Zwangsarbeiter auf, welche als
"Märtyrer des geistigen Widerstandes" dieser Verfolgung zum Opfer fielen. Allein
im KZ Flossenbürg, in der Oberpfalz, starben 9 dieser Zeugen. 6 von ihnen waren
Mitglieder der JOC, 3 Seminaristen.
Marcel Callo war das zehnte Flossenbürger Opfer. Doch er starb am 19. März
1945 in Mauthausen bei Linz, zu Tode geschunden beim Bau der deutschen
"Wunderwaffe" V2. Zu den noch lebenden ehemaligen Flossenbürger Häftlingen zählt
der Jesuit Pater Beschet.
Der Name von Marcel Callo steht nicht im
"Martyrologium 2000". Denn er wurde 1987 namentlich selig gesprochen. Seine
Seligsprechung wurde wie eine Pilotfunktion empfunden. (Im deutschen
"Martyrologium 2000" finden wir einen weiteren "Flossenbürger": Dietrich
Bonhoeffer, einen ökumenischen Blutzeugen.)
Charles Molette, Präsident der Vereinigung französischer Kirchenarchivare,
schrieb: "Die französische Kirche scheint sich ihrer Märtyrer zu schämen". Sie
verschweige bis heute deren geistigen Widerstand.
Es ist zu hoffen, dass mit dem "Martyrologium 2000" dort und hier das Zeugnis
dieser Märtyrer der Kirche und Arbeiterbewegung der Vergessenheit entrissen
wird.
Prälat Johann Ascherl, Vohenstrauß
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